13
Am nächsten Tag kamen Nick und Charlie kichernd und mit glühenden Wangen aus der Stadt zurück.
»Habt ihr getrunken?«, erkundigte sich Grace misstrauisch. Das sollte schon vorgekommen sein nachmittags um zwei.
»Warum denkst du immer nur das Schlimmste von uns?«, beschwerte sich Nick.
»Ich kann es keine Minute länger für mich behalten«, platzte Charlie heraus. »Können wir es ihr nicht sagen, Nick?«
»Klar. Tu‘s.«
»Wir haben uns verlobt, Grace!«
»Verlobt?«
»Ja. Das heißt, dass wir heiraten werden«, erläuterte Nick. »Irgendwann in der Zukunft, weißt du - sobald wir unser Leben in den Griff kriegen.«
»Sobald wie möglich«, erklärte Charlie energisch. »Schau!« Sie streckte die linke Hand aus. Ein Ring mit einem winzigen Brillanten steckte daran. »Wir haben ihn gerade bei dem Juwelier in Hackettstown ausgesucht. Ist er nicht hinreißend?«
»Wunderschön«, bestätigte Grace. »Ich gratuliere euch!«
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Charlie zu ihr. »Ich denke ...«
»Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich würde einen Mann nicht mal mehr mit der Feuerzange anfassen. Dass sie ausnahmslos elende Mistkerle sind«, zitierte sie sich vergnügt. »Aber Nick ist anders.«
»Ja, das bin ich«, bekräftigte Nick nachdrücklich.
»Das erkannte ich sofort, als ich ihn sah. So habe ich noch nie für einen Mann empfunden, stimmt‘s, Schatz?«, sagte Charlie über ihre Schulter in Richtung der Tür, durch die Gavin hinter ihnen hereingekommen war.
»Abgesehen von Bob«, antwortete er.
»Okay, mag sein.«
»Und Tony.«
»O ja - Tony! Den hatte ich schon fast vergessen. Aber wir waren nur drei Wochen verlobt.«
»Und ihr beide kennt euch erst drei Wochen«, wagte Grace einen Vorstoß. Sie wollte die Stimmung nicht verderben, aber hier ging es um Nick! Ihren Bruder.
»Drei Wochen, zwei Tage, zwölf Stunden und siebenundvierzig Minuten«, präzisierte Charlie. »Ist das nicht phantastisch? Ich habe schon immer an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt«, vertraute sie Grace an. »Jedenfalls möchten wir dich bei unserer Hochzeit als Brautjungfer haben stimmt‘s, Nick?«
Er nickte. »Unbedingt.«
»Vergiss nicht, dass du dich vorher von Didi scheiden lassen musst«, erinnerte Grace ihn. Jetzt klang sie wirklich gemein.
Charlie schaute sie spöttisch an. »So, wie du dich von Ewan scheiden lässt, ja?«
Touché. Grace spürte sich erröten. »Ich habe dieses Missverständnis doch aufgeklärt.«
»Wie auch immer. Nick hat sich schon mit seinem Anwalt in Verbindung gesetzt, stimmt‘s, Schatz? Und Gavin wird bei der Hochzeitszeremonie assistieren, stimmt‘s, Darling?«
»Stimmt«, bestätigte der Junge stolz.
»Meinst du, der Anzug, den wir für die Hochzeit mit Tom gekauft haben, passt mir noch?«
»Wir kaufen dir einen neuen«, erklärte Charlie. »Wir kaufen alles neu!«
»Aber wir dürfen unser Budget nicht aus den Augen verlieren«, wandte Nick ein.
Charlie bedachte ihn mit einem stahlharten Blick. »Es wird eine anständige, weiße Hochzeit werden, Nick, mit gedruckten Einladungen und einem Empfang im Hotel und Livemusik. Ich war sechsmal verlobt, und diesmal wird es durchgezogen. Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben respektabel sein.«
»Ich auch«, sagte Gavin.
Charlie boxte ihn liebevoll unters Kinn und wandte sich dann fröhlich an Nick: »Mach dir keine Sorgen wegen des Geldes - nimm dir einfach ein Beispiel an Johnny Logan.«
Nick räusperte sich laut und sagte dann zu Grace: »Behalt die Neuigkeit vorläufig aber noch für dich. Ich will nicht, dass Didi Wind davon bekommt.«
»Auf jeden Fall nicht, bevor sie erfährt, dass sie geschieden wird«, ergänzte Charlie in vertraulichem Ton. »Das wäre ihr gegenüber nicht fair.«
»Und was ist mit den Kids?«, fragte Grace ihren Bruder.
»Denen sage ich erst mal auch nichts«, antwortete er.
»Jetzt bist du natürlich auch für Gavin verantwortlich«, hielt Charlie ihm vor Augen.
»Ja«, meldete Gavin sich zu Wort. »Und ich kann ganz schön schwierig sein, stimmt‘s, Mum?«
»Stimmt.« Sie lächelte ihn liebevoll an.
Nick wirkte plötzlich ein wenig bedrückt, fand Grace.
»Wenn du deinen Computerkurs abgeschlossen hast, seht ihr schon ein bisschen klarer«, sagte sie diplomatisch.
»Den hat er abgebrochen«, berichtete Charlie.
»Was?«
»Die IT-Branche geht sowieso den Bach runter«, meinte sie locker, und dann sagte sie zu Gavin: »Komm, wir gehen rauf und packen meine Hochzeitsmagazine aus!«
»Sie hat welche von 1990, stimmt‘s, Mum?«
»Damals warst du noch nicht mal ein sündiger Gedanke.« Sie zwinkerte ihm zu.
Hand in Hand liefen sie die Treppe hinauf und ließen die Geschwister in unbehaglichem Schweigen zurück. »Nun spuck‘s schon aus«, forderte Nick sie schließlich auf.
»Was?«
»Dass ich einen Riesenfehler mache. Du kannst es doch kaum erwarten, mir das hinzufahren.«
»Das ist nicht wahr! Ich bin nur überrascht - vor allem, weil alles so schnell geht...«
»Worauf soll ich warten? Ich liebe sie.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Auch wenn sie ein bisschen laut und schrill ist und nicht deinen Perfektionsansprüchen entspricht.«
»Nick!«
»Aber Charlie sagt, wir werden ein Spitzenteam. Sie sagt, mit ihr als Managerin werden wir die große Kohle machen.«
»Mit ihr als Managerin?«
»Sie ist meine neue Managerin - hatte ich das nicht erwähnt?«
»Nein.«
»Sie sagte, du hättest ihr geraten, die Tanzerei an den Nagel zu hängen und ins Management zu wechseln.«
»Was? Das habe ich nie getan!«
»Irgendwas in der Art musst du aber gesagt haben. Jedenfalls will sie nicht mehr das Talent sein, und so bin jetzt ich das Talent. Wir bringen mich neu raus - als Solokünstler. Adieu Steel Warriors und bescheuerte Computerkurse! Charlie sagt, ich habe echte Starqualitäten, und daraus müssen wir Kapital schlagen.«
»Ich freue mich für dich.«
»Ich brauche kein Okay von dir, Grace.«
»Es war als Glückwunsch gemeint.«
»Glück brauchen wir auch nicht. Charlie wird Millionen für uns machen!«
Plötzlich war alle Euphorie wie weggewischt, und er schaute Grace so gequält an, dass sie erschrak. »Was hast du, Nick? Ist etwas mit den Kindern? Sind sie krank?«
»Sie will, dass ich am Grand Prix teilnehme«, platzte er heraus.
»Was?«
»Ich weiß. Stell dir das vor! Von den Steel Warriors zu Johnny Logan!« Er rieb sich die Augen, und einen Moment dachte Grace, er würde anfangen zu weinen. »Sie will, dass ich die Rockmusik aufgebe und stattdessen Balladen komponiere. Sie sagt, wenn ich den Grand Prix gewinne, kann ich in Skandinavien Karriere machen. Ein Nummer-eins-Hit in Finnland könnte uns für ein Jahr über Wasser halten, und wenn wir es in Schweden schaffen, ist ein Haus drin.«
Grace wusste beim besten Willen nicht, was sie dazu sagen sollte. Begeistert zu reagieren wäre himmelschreiend unehrlich gewesen. Immerhin hatten sie sich bei den Grand-Prix-Ausscheidungen immer einen Spaß daraus gemacht, die Akteure von den Frisuren über die lächerlichen Texte bis hin zu der linkischen Tanzerei gnadenlos niederzumachen. »Null point!«, schleuderten sie und Nick höhnisch lachend dem Fernseher entgegen. Wie sie diese Leute verachteten, die so verzweifelt nach Erfolg gierten, dass sie sich in kitschigen rosa Outfits auf die Bühne stellten und sich vor Millionen von Zuschauern zu Narren machten.
»Ich glaube, die Kostüme sind inzwischen schicker«, sagte sie vorsichtig.
»Ja«, bestätigte Nick nach kurzem Überlegen. »Und für Celine Dion war der Grand Prix ein Sprungbrett, sagt Charlie.«
»Damit hat sie Recht. Für Abba genauso. Und, äh, für Buck‘s Fizz.«
Wieder verfielen sie in Schweigen. Vor drei Wochen hätte Grace es dabei bewenden lassen. Jetzt konnte sie das nicht. »Es ist eine haarsträubende Idee, Nick!«
Er sah erleichtert aus, als habe sie ihm bewiesen, dass er nicht verrückt war. »Aber sie hat ihr Herz daran gehängt.«
»Es wäre schon schlimm genug, die Rockmusik aufzugeben, die du so liebst! Aber deine Seele zu verkaufen ...«
Sein bleiches Gesicht bekam wieder ein wenig Farbe. »Ich weiß. Aber versuch ihr das mal klar zu machen!«
»Das werde ich.«
»Ehrlich?«
Scheiße! Sie hatte das nicht wirklich ernst gemeint, und so atmete sie auf, als Nick sagte: »Ich danke dir für dein Angebot, Grace - aber es müsste von mir kommen.«
»Dann sag‘s ihr!«, rief sie in Erinnerung an den Feuerwehrball und ihren Bruder, den sie nie zuvor so lebendig gesehen hatte. »Du musst einstehen für das, woran du glaubst, Nick! Es muss doch ein paar Dinge im Leben geben, bei denen wir nicht zu Kompromissen bereit sind! Ich meine, was für einen Sinn hat irgendetwas, wenn wir am Ende nur eine halbe Person sind?«
Sie wusste nicht, woher sie das genommen hatte, aber in diesem Moment glaubte sie felsenfest daran. Und Nick glaubte ihr.
»Weißt du was? Du hast Recht. Dass ich sie heirate, bedeutet nicht, dass ich mich verkaufen muss. Nur weil ich eine Exfrau und drei Kinder zu ernähren habe ...«
»Es sind jetzt vier.«
»... und keine Bleibe und kein Einkommen, muss ich mich noch lange nicht erniedrigen. Nein! Ich werde ihr geradeheraus sagen, dass ich mit dem Grand Prix nichts am Hut habe. Jetzt sofort.«
»Sehr gut.«
Er hatte die Tür erreicht und drehte sich um. »Ich hätte nie gedacht, dass du so bist, weißt du.«
»Wie?«
»Ich weiß auch nicht... cool.«
Sie lachte auf. »Ich war immer cool. Du hast dich nur nie mit mir abgegeben. Du warst zu sehr mit deiner Band beschäftigt.«
»Du warst unser liebstes Groupie«, sagte er voller Zuneigung. »Derek und Vinnie meinten sogar, wir sollten dich bitten, bei uns mitzumachen.«
»Mich?«
»Ja. Sie sagten, es würde unsere Beliebtheit steigern. Du sahst damals ganz okay aus. Derek fand, dass du Ähnlichkeit mit Suzie Quattro hättest. Dass ihr beide ... wie sagte er? Ach ja - dass ihr beide was Gefährliches hättet.«
Grace zuckte ein Déjà-vu durch den Kopf. Dennis the Menace und Bewleys.
»Wegen meines schwarzweiß gestreiften Halstuchs«, flüsterte sie andächtig. »Er muss mich mal damit gesehen haben.« Es hatte plötzlich große Bedeutung in ihrem Leben gewonnen.
»Nein«, widersprach ihr Bruder. »Wegen der schwarzen Nappalederhose, die du damals hattest. Er sagte, er bekäme jedes Mal einen Ständer, wenn er dich darin sähe.« Nick runzelte die Stirn. »Es passte mir nicht, wenn er so über dich redete. Ich sagte zu ihm, sie ist meine kleine Schwester, verdammt, geh und nimm dir eine andere zwischen die Beine.«
»Danke«, sagte Grace mit schwacher Stimme.
»Na ja - jedenfalls kam es nicht dazu.«
»Warum nicht?«
»Warum was nicht?«
»Warum habt ihr mich nicht gebeten, bei euch mitzumachen?«
Nick lachte. »Weil ich dachte, das käme in deinem Lebensplan nicht vor. Kein Geld, keine Sicherheit - dazu wärst du nicht mal mit sechzehn bereit gewesen.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, stimmte sie ihm lächelnd zu.
Sie sagte ihm nicht, dass sie mit sechzehn tatsächlich einen Lebensplan gehabt hatte - in Schönschrift auf einem rosa Blatt Papier festgehalten, das sie auf die Unterseite ihrer Sockenschublade geklebt hatte. Darauf stand eine Liste von Wunschberufen. An die erste Stelle hatte sie zunächst »eine berühmte Schauspielerin werden« gesetzt, diese Möglichkeit jedoch nach der Lektüre eines Buches über wagemutige Entdeckerinnen auf Platz zwei verschoben. Undercover für die Polizei arbeiten oder als internationale Spionin hatte sich ebenfalls lange auf der Liste gehalten, ebenso wie Trapezkünstlerin beim Zirkus (damals waren ihre Schenkel schlanker gewesen) und eine nicht präzise benannte Tätigkeit, bei der man nicht viel anhatte und die im Sexgeschäft angesiedelt war, das sie allerdings seinerzeit nicht in vollem Umfang überblickt hatte. Immobilien verkaufen stand jedenfalls nicht auf ihrer Liste. Grace Tynan hatte mit sechzehn hochfliegende Hoffnungen und Träume gehabt. Damals glaubte sie, alles werden zu können, was sie wollte. Vielleicht könnte sie das ja jetzt verwirklichen.
Sie ging in die Küche, um zu telefonieren.
»Ich habe heute gekündigt«, erzählte sie Adam in dieser Nacht schläfrig. Sie war von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt, als hätte sie etwas getan, das sie schon seit einer Ewigkeit tun wollte. Nun ja, auf Natalies Anrufbeantworter - sie würde ihren Entschluss der Geschäftsleitung noch schriftlich mitteilen müssen - »Ich komme nicht zurück, ich komme nicht zurück« zu trällern, zählte wahrscheinlich nicht als offizielle Kündigung.
»Schön für dich«, sagte er. »Und ich habe heute mit meiner Freundin Schluss gemacht.«
Ihre Lider klappten hörbar auf. »Was?«, fragte sie verblüfft in die Dunkelheit.
»Ich habe mit ihr Schluss gemacht.«
»Das tut mir Leid, Adam.«
»Mir nicht.«
»Aber ich kann es irgendwie verstehen ... es ist schwierig, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn man so weit voneinander entfernt ist...«
»Es hat nichts mit der Entfernung zu tun.« Sie spürte, dass er sie ansah. »Meinst du nicht, dass es Zeit ist, mit diesem Wischiwaschi aufzuhören, Grace? Ich muss wissen, wie du zu mir stehst.«
Sie rührte sich nicht. Vielleicht konnte sie ihn glauben machen, dass sie eingeschlafen war.
Keine Chance.
»Grace?«
»Jaaa.«
»Wir müssen reden«, verkündete er. »Das hätten wir schon vor Tagen tun müssen.«
»Wirklich? Aber es ist spät, und du bist morgen ziemlich im Stress ...«
»Willst du mich hinhalten?«
»Nein. Ich mache mir nur Gedanken.« Das tat sie mitnichten. Zumindest keine zusammenhängenden. Wie sollte sie etwas in Worte fassen, was sie gar nicht genau definieren konnte. Sie fühlte sich leicht und lebendig, wenn sie mit ihm zusammen war, aber würde er das richtig verstehen, wenn sie es formulierte, oder würde er es missinterpretieren und ihr verübeln? »Ich habe mich in dich verliebt, Grace«, eröffnete Adam ihr. Er hatte keine Probleme, seine Gefühle klar zum Ausdruck zu bringen. So war er - geradlinig in jeder Hinsicht. Bei ihm gab es keine verschwimmenden Grenzen, alles war entweder schwarz oder weiß, sogar, wenn es um Emotionen ging. Nicht zuletzt deshalb fand sie ihn so anziehend.
»Wie ist sie?«, fragte sie schließlich.
»Wer?«
»Deine Freundin.«
»Meine Freundin?«
»Ja.«
»Was hat sie denn damit zu tun?«
Der Mond schien zum Fenster herein, und Grace schaute Adam in seinem Licht indigniert an. »Du hast gerade mit ihr Schluss gemacht. Ihr gesagt, dass es vorbei ist. Wahrscheinlich weint sie sich jetzt die Augen aus!«
Männer machten sich darüber niemals Gedanken. Für sie war die Trennung das Schlimmste. Für Frauen waren die Tage, Wochen, ja sogar Monate danach viel schlimmer, wenn der Anblick seines Schaumbades im Supermarkt genügte, um sie mitten in der Körperpflegeabteilung schluchzend in die Knie brechen zu lassen. Und es gab gewisse Restaurants, die einige von Graces Freundinnen nicht betraten, weil sie fürchteten, die Erinnerungen, die sie dort überfallen würden, nicht ertragen zu können. Und das nach Jahren! Einen Weiberabend zu planen, erforderte beträchtliches Fingerspitzengefühl und die neueste Ausgabe des Restaurantführers.
»Wenn ich mir vorstelle, dass du keine Ahnung hast, wie sie deinen Entschluss verkraftet.« Grace wurde zusehends ärgerlicher.
»Amanda kommt schon zurecht«, meinte er. »Sie hat einen Haufen Freunde und Verwandte.«
Amanda. Grace sagte sich den Namen im Stillen vor. Er hatte Klasse. Und bestimmt würde niemand es wagen, sie Mandy zu nennen oder etwas ähnlich Gewöhnliches. Wie sie wohl mit Nachnamen hieß? Vielleicht irgendwie französisch. Oder sie hatte einen Doppelnamen. Jedenfalls bestimmt keinen Allerweltsnamen wie Tynan. »Hast du sie geliebt?«, fragte sie voller Zuneigung für das arme Ding.
Adam richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. »Was soll das? Warum reden wir über meine Freundin, ich meine Exfreundin -, wenn wir über uns reden sollten?«
»Ich möchte mir nur ein Bild machen.«
»Ja, natürlich habe ich sie irgendwann geliebt - sonst wäre ich wohl kaum vier Jahre mit ihr zusammen gewesen.« Vier Jahre! Dann musste sie ja fast eine Sandkastenliebe gewesen sein. Grace sah sie vor sich, ein bildhübsches Kind, dessen blonde Rattenschwänzchen beim Seilspringen in der Einfahrt des elterlichen Anwesens hüpften, während die Nachbarjungen sehnsüchtig von ihren Mountainbikes herüberschauten.
»Was ist passiert?«, wollte sie wissen. Die Geschichte war spannender als eine Seifenoper.
»Nichts ist passiert«, antwortete er gereizt. »Es konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Wir waren einfach zu verschieden.«
»Inwiefern?«
»Ach, Grace!«
»Interessiert sie sich nicht für Anti-Atomkraft-Demos?«
»Doch, und wie! Sie ist extrem aktiv. So haben wir uns kennen gelernt. Ich meinte mit »verschieden« unseren Hintergrund. Ihre Eltern sind, na, ja, sie sind ziemlich wohlhabend.«
Auch noch stinkreich! Amanda begann in Graces Kopf zum Mythos aufzusteigen. Jetzt war sie ein Miss-World-Typ und organisierte von einer Yacht aus über ein rosa Handy Demonstrationen zur Rettung der Wale. Wie konnte Adam so dumm sein, mit ihr Schluss zu machen? Für Grace? (Nicht, dass Grace ihr Licht unter den Scheffel stellte, aber ehrlich, jeder geistig gesunde Mensch würde sich, wenn er die Wahl hätte, für Amanda entscheiden. Sogar Grace würde das.)
»Aber, dass sie Geld hat...«
»Geld ist überhaupt kein Thema für mich!«, explodierte Adam. »Wenn du mich nicht mal so gut kennst...«
Doch, das tat sie. Allein der Anblick von Geld schien ihn abzustoßen. Amanda musste wirklich eine faszinierende Persönlichkeit sein, wenn er bereit gewesen war, so lange über ihre Millionen hinwegzusehen.
Er schaute sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Grace ich habe dir gerade gesagt, dass ich deinetwegen mit meiner Freundin Schluss gemacht habe. Ich habe dir gerade gesagt, dass ich in dich verliebt bin. Und du versuchst, mich zu überreden, zu ihr zurückzugehen?«
Tat sie das? Vielleicht konnte sie nur nicht glauben, dass er etwas so Bedeutungsschweres für sie getan hatte: Grace Tynan, 34, Mutter von Zwillingen, Immobilienmaklerin. Sie hörte im Radio Lite FM, um Himmels willen. »Ich habe nur Angst, dass du unüberlegt gehandelt hast«, sagte sie kleinlaut.
»Ich wusste ganz genau, was ich tat.« Er hob stolz den Kopf. »Es war nicht einfach, aber irgendwann im Leben kommt man an einen Punkt, wo man entscheiden muss, was einem wichtig ist. Wer einem wichtig ist. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und ich bleibe dabei. Jetzt bist du dran.«
Womit? Erwartete er, dass sie sich von Ewan trennte? »Adam, das kommt alles ein wenig überraschend für mich«, untertrieb sie haarsträubend.
»Ich weiß - aber ich kann so nicht weitermachen, Grace. Ich kann nicht so tun, als wäre das zwischen uns nur eine simple Bettgeschichte, nach der wir wieder getrennte Wege gehen, als wäre nichts passiert. Bei mir ist etwas passiert.«
»Ich sehe es auch nicht nur als simple Bettgeschichte«, sagte sie.
»Doch, das tust du. Du denkst ständig an Sex! Wir haben ständig Sex!«
»Das ist doch üblich am Anfang einer Beziehung«, argumentierte sie. Sex zu haben und Kunstausstellungen zu besuchen. Wusste er denn gar nichts?
»Ich denke, wir sind über die Anfangsphase hinaus«, erwiderte er ernst. »Du nicht?«
»Ich denke ... ich denke ... ich denke ...«, stotterte sie in dem Bemühen, Zeit zu gewinnen. Ach was - sie würde einlach darum bitten. »Ich brauche Zeit!«
Adam schaute sie einen Moment lang durchdringend an und sagte dann: »Das klingt für mich wie eine Ausflucht, Grace.«
»Aber das ist es nicht. Ich fühle mich sehr wohl mit dir. Sehr, sehr wohl! Ich habe noch nie jemanden wie dich kennen gelernt - und ich habe noch nie so empfunden.« Sie musste Farbe bekennen. »Ich habe nur nicht weitergedacht.«
»Ich auch nicht«, gestand er. »Ich hatte nicht vor, mich zu verlieben, Grace. Ich hatte nicht vor, mit meiner Freundin Schluss zu machen. Aber ich habe mich verliebt - und ich muss wissen, wie du zu mir stehst.« Er fixierte sie erwartungsvoll.
»Du willst wissen, ob ich mit dir in einer Hütte am Strand wohnen werde?« Sie lachte.
Er war nicht bereit, ihre Lockerheit zu übernehmen. »Du weißt, was ich meine, Grace. Du wirst dich entscheiden müssen.«
Das klang verdammt nach einem Ultimatum, und es erschreckte sie bis ins Mark. »Zwischen dir und meinem Mann?«, fragte sie mit leicht zitternder Stimme. Er antwortete nicht.
»Was schätzen Sie, wie heiß es im Zentrum einer Atomexplosion ist?«
»Tausend Grad?«
»Ganz falsch! Mehrere Millionen Grad!«, sagte Martine. »Sie würden verdampfen. Es bliebe nichts von Ihnen übrig.«
»Ich würde in einem Bunker Schutz suchen«, erwiderte Julia und öffnete ihre zweite Dose Apfelwein (sie würde die Dosen später zuunterst im Mülleimer verstecken, damit Grace sie nicht fände).
»Das würde nichts nützen. Bei der Explosion würde aller Sauerstoff aus der Atmosphäre gesaugt, und Sie würden ersticken.«
»Dann würde ich mich eben in meinen Wagen setzen und davonfahren.«
»Vergessen Sie‘s! Es kann auch tausende von Meilen entfernt noch radioaktiver Regen fallen. So schnell könnten Sie gar nicht fahren!«
Julia hob entmutigt die Hände. »Dann sind wir alle verloren!«
Martine nickte mit hochroten Wangen. »Genau! Und darum kämpfen wir für die Abschaffung der Atomkraft, Julia!«
»Entführen wir einfach den Star des Festivals und sagen, dass wir ihn erst freilassen, wenn der MOX-Transport gestoppt ist«, bettelte Julia in der Hoffnung, doch noch eine spektakuläre Aktion mittragen zu dürfen.
»Oh! Sie haben mit Adam geredet.«
»Er hat Recht, finde ich. Wir sollten wirklich ein bisschen radikaler vorgehen.«
»Ich bin die Leiterin dieser Gruppe«, erklärte Martine, »und wir werden die Sache auf meine Weise durchziehen. Wie können wir erwarten, ernst genommen zu werden, wenn wir uns nicht an die Gesetze halten?«
»Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte Julia halbherzig.
Martine war manchmal ernster, als ihr gut tat.
»Ich glaube, er hetzt auch Joey gegen mich auf«, vermutete Martine finster.
„Kann schon sein. Jetzt erzählen Sie mir, welche inneren Verletzungen ich erleiden würde, wenn ich mich eine halbe Meile von der Explosion entfernt aufhielte.« Das Thema faszinierte sie.
Aber Martine gähnte. »Ich gehe ins Bett, Julia - und das sollten Sie auch tun. Ich habe Grace versprochen, Sie nicht zu lange wach zu halten.«
»Es muss nicht alles nach Graces Willen gehen«, protestierte Julia, doch sie sagte es nur leise. Wenn Grace nicht wäre, befände sie sich jetzt vielleicht unter Gillians Fuchtel. Und es war ja nicht so, dass Grace ihr keine Luft zum Atmen ließ. Nein, Grace praktizierte ein gesundes Mittelmaß aus Beschränkungen und Freiheiten - und was die Freiheiten betraf, bestand eine unausgesprochene Einigkeit zwischen ihnen. Ihre Freizeit gehörte ihnen allein, und keine von beiden verlangte von der anderen Rechenschaft darüber.
In dieser Hinsicht war es beinahe eine neutrale Beziehung wie zwischen Patientin und Pflegerin, dachte Julia, und das war ihr durchaus genehm.
»Soll ich Ihnen die Treppe raufhelfen?«, fragte Martine.
»Nein, nein, das kann ich schon allein.« Sie brauchte zwar noch immer eine Krücke, doch sie wollte Martine nicht sehen lassen, wie gehandikapt sie war - sonst ließe sie sie vielleicht am Samstag nicht mit.
»Wenigstens haben Sie am Montag wieder Ruhe«, sagte Martine.
»Warum? Was passiert am Montag?«
»Na, da reisen wir doch ab.«
Julia war regelrecht geschockt, obwohl sie es nicht verstand. Sie hatte ja nicht angenommen, dass die jungen Leute für immer bei ihr bleiben würden. Sie hatte nur nicht erwartet, dass sie so bald gehen würden, das war alles.
»Ihr werdet nach dem Festival doch völlig erschöpft sein«, versuchte sie einen Aufschub zu erreichen. »Warum bleibt ihr nicht noch ein paar Tage und erholt euch?«
»Können wir nicht. Wir fliegen nach Wales, um den MOX-Transport zu empfangen. Alle Umweltgruppen fliegen dahin - es wird eine Riesendemo.« Sie küsste Julia auf die Wange. »Gute Nacht, Julia - und danke für alles.« Es war fast, als verabschiede sie sich schon jetzt. Julia saß noch lange, nachdem das Mädchen zu dem Zelt am Ende des Gartens gegangen war, in JJs altem, rotem Lehnsessel. Irgendwie hatte der Tag seinen Glanz verloren, und ihr war auch wieder kalt. Aber sie müsste in den Schuppen hinaus, um die Heizung einzuschalten, allein in die Dunkelheit.
Das Telefon klingelte. Es klang ohrenbetäubend schrill in dem stillen Haus. Wer konnte das sein um zehn nach ein Uhr nachts?
Sie nahm den Hörer ab. »Hallo?« Keine Antwort.
»Hallo?«, fragte sie noch einmal.
Plötzlich atmete jemand, laut und schwer und stoßweise und, wie ihr schien, bösartig.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so knallte sie den Hörer auf und starrte mit vor Aufregung trockenem Mund auf den Apparat hinunter. Es war unheimlich, als wäre jemand bei ihr im Haus.
Was natürlich auch so war. Grace schlief oben, Charlie und ihr Sohn Gavin und Adam. Und im Garten unten Martine. Sie hatte weiß Gott genügend Menschen zu ihrem Schutz um sich.
Aber am Montag würden sie weg sein. Alle. Auch Grace. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie versuchte, ihn hinunterzuschlucken, doch es ging nicht. Die Wände schienen auf sie zuzukommen. Nichts wie raus hier!, dachte sie. Aber dann atmete sie tief durch. Es war lächerlich, sich vor dem eigenen Wohnzimmer zu fürchten. Vor ihrem eigenen Haus. Sie würde gut zurechtkommen. Bestens. Sie hatte schließlich zwei Jahre allein gelebt. Es bestand kein Anlass, zu glauben, dass sie das nicht wieder könnte - auch mit abartigen Anrufen. Das waren doch alles Feiglinge, die so etwas taten.
Doch das Gefühl ließ sich mit dem Verstand nicht vertreiben. Die Panik, die tief in ihrem Inneren erwacht war, tobte durch sie hindurch wie eine entfesselte Naturgewalt, machte sie hilflos. Sie krümmte sich und flüsterte »Grace!«.
Aber Grace lag oben im Bett. Sie konnte sie unmöglich hören.
Julias Kehle war jetzt so eng, dass sie nicht mehr richtig atmen konnte. Sie humpelte zu einem Stuhl, um sich darauf zu stützen, wobei sie die Apfelweindose vom Tisch stieß. Sie fiel auf den Boden, und der Inhalt bespritzte ihre Beine. Doch das spürte sie nicht. Sie war einer Ohnmacht nahe.
»Julia? Julia!«
Sie wurde bei den Schultern gepackt und über den Teppich geschleift, und dann fühlte sie weiche Kissen, als sie in den Sessel gesetzt wurde.
»Sind Sie okay?«, fragte eine Männerstimme. Ihr Nachbar!
»Ja, ja ... alles in Ordnung. Was tun Sie denn da, Frank?« Er hatte die Hände auf ihren Kopf gelegt und drückte ihn nach vorne. »Ihr Gehirn muss tiefer sein als Ihr Herz.« Er versuchte, ihren Kopf zwischen ihre Knie zu drücken. »Tief atmen!«
Julia war zum zweiten Mal in kurzer Zeit einer Ohnmacht nahe. »Wie soll ich das denn in dieser Stellung?«, brachte sie mühsam heraus. »Sie ersticken mich ja!« Er ließ sie los, und sie kam langsam hoch. Die schwarzen Punkte hörten auf, vor ihren Augen zu tanzen, der Kloß in ihrer Kehle schrumpfte, und sie fühlte ihre Beine wieder. »Es geht mir gut.«
Frank schüttelte ungläubig den Kopf. »Nicht zu fassen! Sie haben sich mit Apfelwein voll laufen lassen!«
»Ich habe mich überhaupt nicht mit Apfelwein voll laufen lassen.«
»Was soll ich denn dann davon halten?« Er hob die verräterische Dose auf. »Wenn ich das Grace erzähle.«
»Das werden Sie schön bleiben lassen! Es waren nur zwei Dosen. Ich bin nicht betrunken, verstanden?«
Er war nicht überzeugt. »Was hat Sie dann umgehauen? Ihr Fuß?«
»Ich weiß es nicht.« Sie wollte ihm nicht sagen, dass es eine schlichte Panikattacke gewesen war, denn das würde sie schwach und jämmerlich aussehen lassen. »Vielleicht war es eine Reaktion auf die neuen Tabletten.«
»Ich rufe Michael an.«
»Nein!«
»Er sollte es aber wissen. Vielleicht will er einen Arzt kommen lassen ...«
»Ich sagte nein, Frank.« Ihr scharfer Ton tat seine Wirkung. »Vielen Dank - aber ich komme allein zurecht.«
»Sieht nicht so aus.«
Um ihn abzulenken, fragte sie: »Wieso sind Sie überhaupt hier?«
»Ich hatte mich im Internet lange mit Sandy unterhalten, und als ich dann ins Bett wollte, sah ich noch Licht in Ihrer Küche und dachte, ich sehe mal lieber nach, ob Sie okay sind. Das nächste Mal spare ich mir die Mühe. Gute Nacht.«
Seine Überreaktion bestürzte sie. »Warten Sie, Frank. Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Nein.«
»Was ist los?«
Er schaute sie unglücklich an. »Sandys Untersuchungsergebnisse sind da.«
»Ach ja?« Grace hatte irgend so etwas erwähnt. »Sie sind nicht gut.«
»Was hat sie denn?«
»Die Ärzte glauben, es ist eine Niereninsuffizienz.«
»Was?«
»Sie sind sich noch nicht ganz sicher, was sie verursacht hat. Es könnte ein Virus sein. Jedenfalls wird ständig verunreinigtes Blut durch ihre Adern gepumpt, und darum ist sie in letzter Zeit so müde.«
»Tut mir Leid, das zu hören, Frank.«
»Es ist ein ziemlicher Schock für mich.«
»Welche Niere ist es denn?«
»Beide.«
»Beide! Zur gleichen Zeit?«
»Deshalb denken die Arzte, dass es irgendeine Infektion sein könnte.«
»Ich bin sicher, die verstehen ihr Handwerk«, versuchte Julia ihn aufzurichten. »Sie wird in null Komma nichts wieder auf den Beinen sein, verlassen Sie sich darauf.«
»Ja«, sagte Frank tapfer. »Genau das habe ich ihr vorhin in meiner letzten E-Mail geschrieben.« Wieder klingelte das Telefon. Julia stieß einen kleinen Schrei aus und fuhr auf ihrem Stuhl herum, starrte den Apparat mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Angst an.
»Ein bisschen spät für einen Anruf«, brummte Frank. Julia rührte sich nicht.
»Ich gehe für Sie dran, wenn Sie wollen«, erbot Frank sich. Julia packte ihn beim Arm. »Nicht!«, flüsterte sie beschwörend.
»Was?«
»Das ist wieder sie!«
»Wer?«, fragte Frank verständnislos.
»Sie hat vor ein paar Minuten schon mal angerufen. Es war ein obszöner Anruf. Sie will mir Angst machen.«
Das Telefon klingelte weiter.
»Wer denn?«
»Gillian!«
Frank schaute sie ungläubig an. »Was?«
»Ich wollte nicht zu ihrem blöden Wohltätigkeitsfrühstück kommen, und Michael meinte, dass sie das schwer kränken würde. Aber ich dachte nicht, dass sie so tief sinken würde.«
»Was hat sie denn am Telefon gesagt?«
»Gar nichts. Sie hat nicht gesprochen, meine ich.«
»Woher wissen Sie dann, dass sie es war?«
»Ich weiß es, weil sie bösartig und feige ist und es nicht ertragen kann, wenn Michael mir auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit schenkt.« Das Telefon klingelte und klingelte. »Ich gehe jetzt da dran«, erklärte Frank. »Nein! Ich will ihr nicht die Genugtuung geben ...«
»Wir wissen doch gar nicht, ob sie es ist!«
»Ich weiß es«, verkündete Julia grimmig. »Ich habe noch nie in meinem Leben etwas so genau gewusst.«
»Wenn sie es tatsächlich ist, was ich stark bezweifle«, sagte Frank, »wird die Stimme eines Mannes sie vielleicht abschrecken.«
Damit nahm er den Hörer ab. »Hallo?«
Es war Ewan Tynan, der aus Amerika anrief.
»Oh.« Frank schaute Julia an und fragte Ewan: »Haben Sie vor ein paar Minuten schon mal angerufen?«
Ewan verneinte. Dann bat er, Grace sprechen zu dürfen. Es handle sich um einen Notfall. Jamie hatte Brüste bekommen.
»Wovon redest du, Ewan?«
»Er hat Brüste, Grace! Zwei kleine Beulen auf seiner Brust. Mit Nippeln oben drauf. Ich habe sie vor mir!« Er hörte sich leicht hysterisch an. Grace musste sich setzen. Ihr Herz klopfte immer noch wie wild von dem Schrecken, der ihr in die Glieder gefahren war, als sie mitten in der Nacht ans Telefon geholt wurde.
»Okay, Ewan. Lass uns ganz ruhig darüber sprechen, okay? Bist du sicher, dass es keine Blutergüsse sind oder so was?«
»Blutergüsse?«
»Vielleicht hat er sich irgendwo gestoßen ... ach, ich versuche nur, eine Erklärung zu finden ...«
»Es sind keine Blutergüsse!«, antwortete er entschieden.
»Dann ist es vielleicht eine allergische Reaktion. Hat er etwas Ungewöhnliches gegessen, das diese ... diese Beulen verursacht haben kann?«
»Nein. Er ist ja auch sonst nirgendwo geschwollen. Bloß auf der Brust.«
Es war nur eine Hoffnung gewesen. »Wie lange haben sie gebraucht, um zu wachsen?«
»Was?«
»Die Brüste, Ewan! Sind sie ... im Lauf von ein paar Tagen entstanden oder von jetzt auf sofort?«
»Das weiß ich nicht.«
»Das weißt du nicht? Kriegst du denn überhaupt nichts mit, Ewan? Nimmst du irgendetwas wahr, das nicht mit deiner Arbeit zu tun hat?«
»Hergott noch mal, Grace! Erwartest du von mir, dass ich den ganzen Tag seine Brust im Auge behalte? Du würdest das nicht tun.«
»Ich hätte die Brüste bemerkt, wenn ich da wäre.«
»Aber du bist nicht hier, stimmt‘s? Ich bin hier. Ich bin derjenige, der sich damit auseinander setzen muss. Er war schon seit ein paar Tagen komisch. Ich dachte, er hätte vielleicht Bauchweh oder so was, weil er immer so seltsam vornübergebeugt lief. Wie zum Teufel hätte ich darauf kommen sollen, dass er Brüste versteckt?« Seine Stimme klang unnatürlich hoch. Grace hatte ihn noch nie derart verstört erlebt. Die Aufgabe, sich allein um die beiden Jungs zu kümmern, überforderte ihn anscheinend. Und die Hitze.
In wesentlich freundlicherem Ton fuhr sie fort: »Kannst du mir sagen, wie groß sie sind? Nur ungefähr.« Ewan überlegte. Schließlich meinte er: »Nicht so groß wie deine.«
»Das hoffe ich!« Ihre waren inzwischen dank ihres gesegneten Appetits noch größer geworden. »Sie sind total prall«, erläuterte er. »Wie man es bei jungen Mädchen sieht.«
»Ewan!«
»Ich versuche sie nur zu beschreiben«, rechtfertigte er sich verschämt. Sie konnte beinahe sehen, wie er mit den Händen verlegen die Form nachbildete. »Ungefähr so groß, dass sie in das Oberteil von dem Bikini passen würden, den du letztes Jahr aus Versehen gekauft hast. Was war das für eine Größe?«
»Genau!«
O Gott! Jamie hatte einen 75er-Busen? Ihr erster Sport-BH war Größe 70 gewesen!
»Wie verkraftet er es?«, fragte sie voller Mitgefühl für ihren armen Sohn.
»Überhaupt nicht. Er ist ein Junge. Ein Junge, dem Titten gewachsen sind.«
»Ewan!« Es war nicht nötig, ordinär zu werden.
Er atmete tief durch. »Entschuldige. Es kam nur so überraschend. Er hat kein Wort darüber verloren, weigerte sich lediglich, zum Wasserspringen zu gehen. Jetzt verstehe ich das natürlich.«
Es war das erste Mal, dass sie etwas vom Wasserspringen hörte, doch sie kam nicht dazu nachzuhaken, denn ein anderer Gedanke drängte sich in den Vordergrund. »Was ist mit Neil?«, fragte sie ängstlich. »Hat er etwa auch...«
»O nein. Er ist flach wie ein Bügelbrett. Ich habe gerade erst nachgesehen.«
Gott sei Dank. Aber das musste es für Jamie noch schlimmer machen. »Du sprichst doch mit ihm darüber, oder, Ewan?«
»Was?«
»Ich meine, du stehst ihm doch bei, hoffe ich«, sagte sie.
»Nein, Grace«, erwiderte Ewan spitz. »Ich habe ihn in die Ecke gestellt und ignoriere ihn.«
»Ich wollte nicht...«
»Natürlich rede ich mit ihm. Aber es ist nicht ganz einfach, einem Jungen zu erklären, warum er plötzlich zwei kleine Möpse bekommen hat.«
»Ewan! Diese Ausdrucksweise ist auf keinen Fall hilfreich für ihn.«
»Hör zu«, sagte er ungeduldig. »Zum Reden ist später noch genug Zeit. Was wir jetzt brauchen, ist Action. Ich habe dich angerufen, weil ich wissen möchte, was wir tun sollen.«
Gute Frage. Sie fühlte sich entsetzlich hilflos, wie sie da in Adams rotem Rettet-die-Welt-T-Shirt (und nicht viel mehr) auf einem harten Stuhl saß - und zittrig. Natürlich nicht so schlimm, als wenn sie erfahren hätte, dass Jamie schwer krank oder ernsthaft verletzt wäre - aber ein gewisser Schock war Ewans Eröffnung doch.
»Also?«, fragte er erwartungsvoll und verärgerte sie damit. Konnte er nicht einmal ohne sie zurechtkommen?
»Lass mich mit Jamie sprechen«, sagte sie.
»Gute Idee.« Er seufzte erleichtert. »Und während du ihn aufbaust, suche ich im Telefonbuch einen Arzt.«
Grace zupfte nervös an dem T-Shirt, während sie auf ihren Sohn wartete. Was in aller Welt sollte sie ihm sagen? Dass solche Dinge eben passierten? Dass es völlig normal sei? (Sie sah ihn mit Grauen im Sportunterricht vor sich.) Nein, in diesem Fall wäre keine ihrer üblichen Beruhigungsfloskeln oder Garantien angebracht.
»Mum?«, hörte sie Jamies kleine Stimme.
»Hallo, mein Schatz.«
Er brach in Tränen aus. »Ich will nach Hause!«
»Oh, Jamie.« Sie schluckt gegen den Kloß an, der ihre Kehle zu blockieren drohte. »Dad hat mir alles erzählt. Es muss schwer für dich sein.«
»Er schämt sich für mich«, schluchzte Jamie.
»Aber nein, Schatz!«
»Doch. Er versucht die ganze Zeit, nicht auf meine Brust zu gucken, und fragt mich ständig, ob ich mich hinlegen will, als ob ich krank wäre! Und Neil hat gesagt, sie werden sie mir im Krankenhaus abschneiden.«
»Was für ein Unsinn! Niemand wird sie abschneiden.« Wie hatte Ewan es so weit kommen lassen können? Grace kochte vor Wut.
»Neil sagt, dass ich mir einen Job beim Zirkus suchen muss oder bei einem Programm im Fernsehen, wo sie schmutzige Witze machen. Mum - wer ist Benny Hill?«
»Niemand. Es ist völlig unwichtig. Hör mir zu, Schatz wenn Neil das nächste Mal so etwas sagt, rufst du mich auf der Stelle an, hast du verstanden? Dann knöpfe ich ihn mir vor«, sagte sie grimmig.
Ihr Herz gehörte in diesem Moment allein Jamie, ihrem zarten, empfindsamen kleinen Jungen. Es wäre wirklich besser, wenn dieses Malheur Neil zugestoßen wäre. Er hätte die Brüste wahrscheinlich in Vorzüge umgewandelt und ein Vermögen mit den Berichten in der Regenbogenpresse gemacht.
»Mum - was soll jetzt werden? Ich kann doch unmöglich übernächste Woche mit diesem Atombusen in die Schule gehen.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, antwortete sie gewollt fröhlich und unbeschwert. »Wir kriegen das schon in den Griff. Wahrscheinlich ist es ganz harmlos, eine Allergie oder so«, sie überkreuzte die Finger hinter ihrem Rücken, »was die Ärzte feststellen werden, wenn sie dich untersuchen. Okay?«
»Okay.« Er hatte aufgehört zu weinen.
»Ich wette, du bist nicht der erste Junge auf der Welt, dem das passiert ist, und du wirst auch nicht der letzte sein.« Jetzt hatte sie doch eine ihrer alten Beruhigungsformeln anwenden können, denn die traf bestimmt auch auf willkürlich gesprossene Brüste zu. Oder? Jamie schien es zu glauben.
»Wahrscheinlich.«
»Gib mir bitte Dad noch mal, Schatz. Ich telefoniere morgen wieder mir dir, in Ordnung?«
»Ja.«
»Gut gemacht«, lobte Ewan, als er wieder an den Apparat kam, und jetzt klang er ganz aufgeräumt. »Was immer du zu ihm gesagt hast - es hat ihn tatsächlich beruhigt.«
»Hast du die Nummer eines Arztes gefunden?«
»Habe ich.«
»Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, eine Pizza zu holen und ein Video - um ihn abzulenken, meine ich.«
Er musste einen Vorwurf in ihrer Stimme gehört haben, denn er sagte: »Es ist nicht ganz einfach für mich, Grace. Schließlich rechnet man bei einem Urlaub in Disneyworld nicht damit, dass dem Sohn plötzlich Brüste wachsen.«
»Ich weiß, Ewan.« Grace konnte sich vorstellen, was Jamie die letzten Tage durchgemacht und wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, diese unerwünschten Auswüchse auf seiner Brust zur Sprache zu bringen - bei einem Vater und einem Bruder, die nur Interesse für typisch männliche Aktivitäten hatten. Es musste für ihn gewesen sein, als gestehe er in einem Umkleideraum eines Footballklubs, dass er die Periode bekommen habe.
»Okay, dann. Ruf mich morgen an und erzähl mir, was der Arzt gesagt hat«, instruierte sie Ewan. »Ich werde versuchen, hier etwas in Erfahrung zu bringen.«
»In Ordnung. Und - Grace?«
»Was ist denn, Ewan?«, herrschte sie ihn ungeduldig an, weil sie weitere Rechtfertigungen erwartete.
»Wo warst du, als ich anrief?«
Sie erstarrte. »Was?«
»Mrs Carr hat dich eine Ewigkeit suchen müssen, und das fand ich ein bisschen seltsam, denn bei euch ist doch Nacht.«
»Ich war auf der Toilette«, erklärte sie und staunte, dass ihre Stimme völlig normal klang. »Dann bis morgen.« Bevor er noch etwas fragen konnte, legte sie auf.